Es gibt Momente, in denen sich alles anfühlt, als stünde man in der Zentrifuge eines Hochgeschwindigkeitsprogramms. Die E-Mails häufen sich, die Entscheidungen werden dringender, die Erwartungen steigen. In solchen Phasen geht es nicht mehr darum, einfach nur zu funktionieren. Es geht darum, die Fähigkeit zu bewahren, bewusst zu führen – und zwar zunächst einmal sich selbst. Ich habe gelernt, dass Führung unter Druck nicht mit mehr Kontrolle beginnt, sondern mit mehr Bewusstheit.
Eine der wirksamsten Techniken ist der tägliche Emotions-Check. Bevor ich eine Antwort formuliere, ein Urteil fälle oder eine Richtung vorgebe, halte ich drei Sekunden inne. Drei Sekunden. In dieser kurzen Pause frage ich mich nicht, was zu tun ist. Ich frage mich, was ich gerade fühle. Ist es Ungeduld? Verunsicherung? Überforderung? Dieser winzige Moment der Selbstbefragung verhindert, dass ich aus einer Stimmung heraus reagiere, die nichts mit der Sache zu tun hat. Es ist erstaunlich, wie viele impulsive Mails nicht geschrieben, wie viele voreilige Kommentare nicht ausgesprochen wurden, allein durch diese Mini-Pause.
Dazu gehört auch die klare Setzung von Energie-Grenzen. Unser Gehirn ist nicht für pausenlose Konzentration ausgelegt. Nach etwa 90 Minuten intensiver Arbeit lässt die Fokussierung naturgemäß nach. Früher habe ich durchgezogen, angetrieben von der Illusion, dass Pausen Zeitverschwendung sind. Heute plane ich bewusst kurze Unterbrechungen ein – nicht, obwohl die To-Do-Liste lang ist, sondern weil sie es ist. Ein kurzer Gang, ein Blick aus dem Fenster, einfach Stille. Diese Puffer sind keine Auszeiten. Sie sind Teil der Arbeit selbst.
Zwischen Terminen und Videocalls baue ich Mikro-Erholung ein. Oft sind es nur 60 Sekunden. Ich schließe die Augen und konzentriere mich auf fünf tiefe, bewusste Atemzüge. Das klingt simpel, vielleicht sogar esoterisch. Aber die physiologische Wirkung ist unmittelbar. Der Parasympathikus wird aktiviert, der Puls senkt sich, die Anspannung weicht. Diese Mini-Intervention unterbricht den Stresszyklus, bevor er mich überrollt. Es ist, als würde man innerlich einen Reset-Knopf drücken.
Ein weniger beachtetes, aber extrem mächtiges Werkzeug ist das Entscheidungsprotokoll. In hektischen Phasen treffe ich Dutzende Entscheidungen am Tag. Früher verschwammen sie im Nachhinein zu einem undurchdringlichen Nebel. Heute notiere ich die wesentlichen Weichenstellungen kurz – nicht nur das Was, sondern vor allem das Warum. Welche Abwägung habe ich getroffen? Welches Risiko habe ich in Kauf genommen? Das dient nicht der Dokumentation für andere. Es dient mir selbst. Wenn später Fragen aufkommen, muss ich nicht rekonstruieren, was ich dachte. Ich kann es nachlesen. Das schafft Klarheit und entlastet das Arbeitsgedächtnis.
Schließlich habe ich eine persönliche Ausstiegsstrategie entwickelt. Es gibt Situationen, die überfordernd wirken, in denen ich merke, dass ich die Übersicht verliere. Statt weiterzumachen, bis nichts mehr geht, stelle ich mir drei Fragen: Bin ich hier gerade wirklich nötig? Verschlechtert meine weitere Beteiligung die Lage? Was passiert, wenn ich jetzt eine Pause mache? Diese Fragen zwingen mich zur Distanz. Oft merke ich, dass eine kurze Unterbrechung mehr bringt als verbissenes Weitermachen. Zu führen heißt auch, zu wissen, wann man zurücktreten muss – vorübergehend.
Diese Techniken wirken nicht isoliert. Sie bilden ein System der Selbstregulation. Der Emotions-Check schärft die Wahrnehmung. Die Energie-Grenzen schützen die Ressourcen. Die Mikro-Erholung reguliert die Akutbelastung. Das Entscheidungsprotokoll schafft mentale Ordnung. Die Ausstiegsstrategie bewahrt vor Eskalation. Zusammen ermöglichen sie etwas Entscheidendes: handlungsfähig zu bleiben, wenn alles nach sofortigen, unüberlegten Reaktionen schreit.
Die größte Führungsaufgabe beginnt bei einem selbst. Wer sich in turbulenten Zeiten nicht mehr steuern kann, wird auch kein Team, keine Abteilung, kein Unternehmen wirksam leiten können. Es geht nicht um Perfektion oder darum, immun gegen Stress zu werden. Es geht darum, die Werkzeuge an der Hand zu haben, um immer wieder ins Lot zu kommen. Das ist vielleicht die nachhaltigste Form der Führung – die Fähigkeit, sich selbst zu führen, um andere führen zu können.