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Das Ende der Hoffnung: Warum Europas Sicherheitsarchitektur nach 1990 kollabierte

Wie Sicherheitsabkommen der Post-Kalten-Krieg-Ära scheiterten und die heutige geopolitische Krise formten. Von der NATO-Russland-Grundakte bis zur Ukraine-Invasion. Analyse.

Das Ende der Hoffnung: Warum Europas Sicherheitsarchitektur nach 1990 kollabierte

Ich habe sie alle sterben sehen. Nicht mit einem Knall, sondern oft mit einem resignierten Seufzer in einem klimatisierten Konferenzraum, mit der Unterschrift auf einem Austrittsdokument oder in der schrillen Stille nach explodierenden Artilleriegeschossen. Die Sicherheitsarchitekturen, die wir in den rauschhaften Jahren nach dem Fall der Mauer errichteten, waren Kinder ihrer Zeit. Sie atmeten den Optimismus einer einzigen verbliebenen Supermacht und den Glauben, dass Vernunft und gegenseitiges Interesse die alte Logik des Misstrauens ersetzen würden. Heute stehen sie als Ruinen in der geopolitischen Landschaft, einige völlig zerstört, andere in einer Weise umfunktioniert, die ihre Gründer kaum wiedererkennen würden. Ihre Geschichten sind keine trockenen Lektionen in Völkerrecht, sondern intime Tragödien der internationalen Politik.

Beginnen wir mit einem Dokument, das eher wie ein frommer Wunschzettel anmutete als ein Vertrag. Die NATO-Russland-Grundakte von 1997 war ein Meisterwerk der konstruierten Ambivalenz. Moskau erhielt einen Sitz an einem großen Tisch, aber keine Stimme in der Allianz. Das Versprechen, dass die NATO keine “dauerhafte Stationierung substantieller Kampftruppen” in den neuen Mitgliedsstaaten plane, war in Nebel gehüllt. Was ist ‘substantiel’? Was ist ‘dauerhaft’? Jahrzehntelang lebten wir von dieser vagen Formel. Sie war ein Pflaster auf einer klaffenden Wunde – dem russischen Trauma vor NATO-Erweiterungen. Wir pflegten den Dialog im NATO-Russland-Rat, diskutierten Terrorismusbekämpfung und Rettungseinsätze auf hoher See, während im Untergrund die geologischen Spannungen wuchsen. Der Angriff auf die Ukraine 2022 war dann das Beben, das das Pflaster wegriss und die Verwundung in aller Härte zeigte. Die Grundakte ist nicht einfach ‘gescheitert’. Sie wurde für irrelevant erklärt. Ihr wahres Vermächtnis ist die Erkenntnis, dass vertrauensbasierte Arrangements ohne Mechanismen zur Überprüfung und Durchsetzung im Angesicht eines entschlossenen revisionistischen Akteurs nur solange halten wie das gute Wetter anhält.

Während die Grundakte ein vages Versprechen war, war das Budapester Memorandum von 1994 erschreckend konkret. Im Tausch für den drittgrößten Nukleararsenal der Welt erhielt die Ukraine eine Garantie für ihre territoriale Unversehrtheit von Russland, den USA und Großbritannien. Es war der größte Nuklearwaffenverzicht der Geschichte. Ich erinnere mich an die damalige Stimmung: Man feierte den Sieg der Vernunft, den Triumph des Völkerrechts über die nukleare Abschreckung. Die Annexion der Krim 2014 war der erste kalte Duschschock. Die Invasion 2022 war die eisige Bestätigung. Das Memorandum hatte keine Durchsetzungsklauseln. Es war eine politische Zusage, keine militärische Bündnisverpflichtung. Seine heutige Bedeutung ist makaber und weitreichend. In den Hauptstädten von Seoul bis Riad, von Tokio bis Ankara dient es nicht als Vorbild, sondern als abschreckendes Lehrstück. Es beweist einen schlichten, brutalen Satz: Ein Land mit Atomwaffen wird nicht überfallen. Ein Land ohne Atomwaffen schon. Die Botschaft, die nun in den Korridoren der Macht hallt, ist die genaue Umkehrung der Intention von 1994. Sie fördert nicht Abrüstung, sondern schürt den Wunsch nach eigenen nuklearen Optionen. Das Budapester Memorandum ist damit zum giftigsten Präzedenzfall der Nachkriegszeit geworden.

Etwas technischer, aber nicht weniger symbolträchtig, war der Vertrag über den Offenen Himmel von 1992. Er erlaubte den teilnehmenden Staaten, mit ausgestatteten Beobachtungsflugzeugen über das gesamte Hoheitsgebiet der anderen zu fliegen. Man konnte Flughäfen, Kasernen und Manöver aus niedriger Höhe fotografieren. Der Geist war genial: Durch maximale Transparenz soll Misstrauen abgebaut werden. Wenn du weißt, dass ich nächste Woche deine Garnison in Kaliningrad besichtige, lohnt es sich nicht, dort überraschend Panzer zu verstecken. Es war ein Werkzeug der Krisenstabilität. Sein langsamer Tod war ein Lehrstück in schleichender Erosion. Die Beschwerden häuften sich: Russland beschränkte Überflüge über Kaliningrad und entlang der georgischen Grenze. Die USA warfen Russland vor, digitale Sensoren bei Überflügen über ihren eigenen Einrichtungen zu stören. Der Austritt Washingtons 2020 unter der Begründung, Russland halte sich nicht daran, war der finale Akt. Moskau zog sich kurz darauf ebenfalls zurück. Was verloren ging, war mehr als ein Überwachungsregime. Es war ein Ritual der Kooperation, eine regelmäßige, praktische Interaktion zwischen Militärs, die trotz aller Spannungen einen professionellen Dialog aufrechterhielt. Mit seinem Ende verschwand ein wichtiges Sicherheitsventil. Die Militärs sehen sich jetzt wieder nur noch durch Satellitenbilder, diese kalten, distanzierten Augen am Himmel.

Während die Aufmerksamkeit oft bei nuklearen Abrüstungsverträgen liegt, war das Gerüst der konventionellen Rüstungskontrolle in Europa das eigentliche Fundament der Stabilität. Der Vertrag über Konventionelle Streitkräfte in Europa (KSE) von 1990 setzte Obergrenzen für Panzer, Artillerie und Kampfflugzeuge vom Atlantik bis zum Ural. Er war der detaillierteste Vertrag der Geschichte. Seine Erosion begann schon früher. Die NATO-Erweiterung, Russlands Klagen über die Anpassung der Vertragsgrenzen, der russische ‘Suspensions’-Status ab 2007 – all das ließ das System bröckeln. Heute ist es ein leerer Rahmen. Was bleibt, sind vereinzelte, freiwillige Transparenzmaßnahmen im Wiener Dokument. Die Folgen sind konkret. Die massiven, unangekündigten Truppenkonzentrationen vor der Ukraine wären unter dem alten KSE-Regime so nicht möglich gewesen. Es hätte Notifizierungspflichten und Inspektionen gegeben. Jetzt bewegen sich Armeen wieder im Schatten. Die Vorhersehbarkeit, die einst das Markenzeichen der europäischen Sicherheit war, ist auf ein gefährliches Minimum geschrumpft. Diese unsichtbare Infrastruktur der Stabilität fehlt schmerzlich, und ihr Fehlen macht jeden Krisenherd sofort brennbarer.

Und dann gibt es jenes Abkommen, das nicht zerbrach, sondern sich in sein Gegenteil verwandelte. Die Shanghaier Organisation für Zusammenarbeit (SOZ), 1996 als “Shanghaier Fünf” zur Regelung von Grenzstreitigkeiten zwischen China, Russland und ihren zentralasiatischen Nachbarn gegründet, ist das Chamäleon unter den Post-Kalte-Kriegs-Abkommen. Ihr Ursprung war pragmatisch: Demilitarisierte Grenzen schaffen, um Vertrauen aufzubauen. Doch unter der Oberfläche schlummerte ein anderes Potenzial: die Schaffung eines autokratischen Gegenpols zum westlichen Bündnissystem. Während die NATO ihren Zweck in Frage stellte und die OSZE lahmt, wuchs die SOZ. Sie erweiterte sich um Indien und Pakistan, nahm Iran auf. Ihr Fokus verschob sich von Grenzen zu “dreifachem Bösen” – Terrorismus, Separatismus, Extremismus –, einem lockeren Begriff, der innenpolitische Repression unter dem Deckmantel der Sicherheit rechtfertigt. Ihre gemeinsamen Militärübungen, “Friedensmissionen” genannt, nehmen an Größe und Frequenz zu. Heute ist die SOZ kein einfaches Sicherheitsabkommen mehr. Sie ist das zentrale Forum für eurasische Sicherheitskoordination unter chinesischer und russischer Führung, explizit darauf ausgerichtet, westliche Einflüsse und Werte wie liberale Demokratie aus der Region fernzuhalten. Sie hat den Geist der Kooperation der 90er Jahre absorbiert und in ein Instrument des systemischen Wettbewerbs umgewandelt. Ihr Erfolg misst sich nicht an gewonnenem Vertrauen, sondern an geschaffener Abhängigkeit und ausgegrenztem Einfluss.

Was also bleibt von dieser Ära? Ein Haufen gescheiterter Verträge und ein umgedeuteter Block. Die Lektion ist nicht, dass Abkommen nutzlos sind. Die Lektion ist, dass ihre Lebensdauer von den geopolitischen Realitäten abhängt, in die sie eingebettet sind. Sie können Spannungen managen, solange ein grundsätzlicher Konsens über die Regeln der Ordnung herrscht. Wenn dieser Konsens zerfällt – wie zwischen Russland und dem Westen –, dann zerfallen auch die Verträge, die auf ihm aufbauten. Sie waren Spiegel, nicht Motoren, des politischen Willens. Ihr heutiges Erbe prägt uns dennoch täglich. Es liegt in der nuklearen Paranoia, die jetzt globale Politik antreibt. Es liegt in der undurchsichtigen Militärbewegung an Europas Grenzen. Es liegt in der normalisierten Spaltung der Welt in sich verfestigende Blöcke. Wir leben nicht mehr in der Welt, für die diese Abkommen geschrieben wurden. Wir leben in der Welt, die ihr Scheitern und ihre Umdeutung geschaffen hat. Die Ruinen sind noch warm. Und in ihrem Schatten wird bereits die nächste, unsicherere Architektur entworfen.

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