Die Transformation des globalen Finanzsystems nach 2008
Als die Lehman Brothers am 15. September 2008 kollabierten, wurde die Welt Zeuge eines finanziellen Tsunamis, dessen Nachwirkungen das globale Bankensystem bis in seine Grundfesten erschütterten. Ich erinnere mich noch gut an die Schlagzeilen und die allgemeine Panik, die damals herrschte. Was als Subprime-Hypothekenkrise in den USA begann, entwickelte sich schnell zur schlimmsten globalen Finanzkrise seit der Großen Depression. Die unmittelbaren Folgen waren verheerend, doch langfristig löste dieses Ereignis eine beispiellose Welle von Finanzmarktregulierungen aus, die das globale Finanzsystem grundlegend veränderten.
Nach über einem Jahrzehnt ist es an der Zeit, eine Bestandsaufnahme dieser regulatorischen Reaktionen vorzunehmen und zu verstehen, wie sie unsere Finanzlandschaft neu gestaltet haben. In meiner Arbeit mit Finanzinstituten habe ich aus erster Hand erlebt, wie diese Regulierungen den Alltag von Bankern, Investoren und Verbrauchern verändert haben.
Die Basel III-Rahmenvereinbarung markierte einen Wendepunkt im globalen Bankwesen. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger Basel II erhöhte Basel III die Eigenkapitalanforderungen für Banken drastisch. Während Banken vor der Krise mit minimalen Kapitalreserven operieren konnten, müssen sie nun deutlich mehr hochqualitatives Kernkapital halten. Die Einführung des antizyklischen Kapitalpuffers war besonders innovativ, da er Banken zwingt, in guten Zeiten zusätzliches Kapital aufzubauen, das als Puffer in Krisenzeiten dienen kann. Ein weiterer wichtiger Aspekt von Basel III ist die Leverage Ratio, die unabhängig von Risikogewichtungen eine absolute Untergrenze für das Eigenkapital festlegt, um versteckte Risiken zu adressieren, die in risikosensitiven Modellen oft übersehen werden.
In den USA stellte der Dodd-Frank Wall Street Reform and Consumer Protection Act von 2010 die umfassendste Finanzreform seit den 1930er Jahren dar. Das Herzstück dieses Gesetzes ist die Identifizierung und besondere Regulierung systemrelevanter Finanzinstitute (SIFIs). Ich habe mit Führungskräften solcher Institute gesprochen, und die zusätzlichen Anforderungen haben ihren operativen Alltag grundlegend verändert. Diese Institute müssen jetzt regelmäßig Stresstests durchführen und “Living Wills” (Abwicklungspläne) erstellen, die detailliert darlegen, wie sie im Falle einer Insolvenz ohne staatliche Hilfe abgewickelt werden könnten. Der Dodd-Frank Act schuf auch das Financial Stability Oversight Council, das systemische Risiken überwacht, und das Consumer Financial Protection Bureau, das speziell zum Schutz von Verbrauchern vor missbräuchlichen Finanzpraktiken eingerichtet wurde.
In Europa revolutionierte die Markets in Financial Instruments Directive II (MiFID II) die Art und Weise, wie Wertpapiergeschäfte durchgeführt werden. Diese Regulierung geht weit über ihre Vorgängerin hinaus und brachte beispiellose Transparenzanforderungen mit sich. Die Regel der “Best Execution” verpflichtet Broker nun, ihren Kunden den bestmöglichen Preis für Wertpapiere anzubieten und dies auch nachweisen zu können. Eine der faszinierendsten Änderungen betrifft die Trennung von Research und Handelsgebühren. Vor MiFID II war Research oft ein “kostenloses” Zusatzprodukt, das Banken ihren Handelspartnern anboten – eine Praxis, die zu Interessenkonflikten führte. Jetzt müssen Investmentfirmen separat für Forschung bezahlen, was zu einer drastischen Neugestaltung der Research-Landschaft geführt hat.
Die Volcker-Regel, benannt nach dem ehemaligen Federal Reserve Chairman Paul Volcker, stellt einen besonders interessanten Teil des Dodd-Frank Acts dar. Diese Regelung verbietet Banken, die Einlagen versichern, den Eigenhandel – das heißt, Handel mit eigenen Mitteln zur Gewinnerzielung. Die Idee dahinter ist einfach und überzeugend: Banken sollten nicht mit versicherten Einlagen spekulieren können. In der Praxis hat die Umsetzung der Regel jedoch zu komplexen Abgrenzungsfragen geführt: Wann ist ein Handel Eigenhandel und wann dient er dem Market-Making oder der Absicherung? Diese Unterscheidung hat zu umfangreichen Compliance-Anforderungen geführt, und ich habe erlebt, wie Banken ganze Abteilungen umstrukturieren mussten, um diesen Anforderungen gerecht zu werden.
Die Europäische Bankenunion stellt möglicherweise die ambitionierteste institutionelle Reform dar, da sie die Aufsicht und Abwicklung von Banken in der Eurozone auf eine supranationale Ebene hebt. Der einheitliche Aufsichtsmechanismus (SSM) unter Leitung der Europäischen Zentralbank überwacht nun die größten Banken direkt, während der einheitliche Abwicklungsmechanismus (SRM) sicherstellt, dass strauchelnde Banken ohne Steuergelder gerettet werden können. Die Einlagensicherungssysteme wurden harmonisiert, um sicherzustellen, dass Einlagen bis zu 100.000 Euro geschützt sind. Diese Strukturen hätten vor der Krise undenkbar geschienen und zeigen, wie tiefgreifend die Veränderungen waren, die die Krise katalysiert hat.
Die OTC-Derivate-Regulierung hat einen der undurchsichtigsten Bereiche des Finanzsystems grundlegend verändert. Vor der Krise wurden Over-the-Counter-Derivate bilateral gehandelt, ohne zentrale Clearing-Stellen oder Transparenzanforderungen. Diese Praxis trug wesentlich zur Undurchsichtigkeit von Verflechtungen und Risiken bei, die die Krise verschärften. Mit der European Market Infrastructure Regulation (EMIR) in Europa und ähnlichen Regeln in anderen Jurisdiktionen müssen standardisierte OTC-Derivate nun über zentrale Gegenparteien (CCPs) abgewickelt werden. Diese CCPs fungieren als Intermediäre zwischen Käufern und Verkäufern und verlangen Sicherheiten von allen Parteien, was das Gegenparteirisiko deutlich reduziert. Zusätzlich müssen alle OTC-Derivatetransaktionen an Transaktionsregister gemeldet werden, was die Transparenz erhöht. Diese Reformen haben den Derivatemarkt grundlegend verändert, aber auch neue potentielle Risiken geschaffen, da CCPs selbst zu systemrelevanten Institutionen geworden sind.
Die Vergütungspolitik mag auf den ersten Blick nicht so relevant erscheinen wie andere Regulierungen, aber sie adressiert einen der grundlegendsten Faktoren der Krise: falsche Anreize. Bonusgetriebene Vergütungssysteme belohnten kurzfristige Gewinne oft ohne Rücksicht auf langfristige Risiken. Die neuen Vergütungsrichtlinien haben dies fundamental geändert. In Europa beschränkt die Bonusdeckelung der Capital Requirements Directive IV variable Vergütungen auf maximal das Doppelte des Fixgehalts. Darüber hinaus müssen Boni nun über mehrere Jahre zurückgestellt werden und können bei schlechter Performance oder Fehlverhalten nachträglich reduziert werden (Malus) oder müssen zurückgezahlt werden (Clawback). Diese Regeln haben die Anreizstrukturen in Banken neu ausgerichtet und belohnen jetzt stärker langfristigen, nachhaltigen Erfolg.
Trotz dieser umfassenden Reformen bleibt die internationale Koordinierung eine Herausforderung. Während einige Regeln global harmonisiert wurden, gibt es bei anderen erhebliche regionale Unterschiede. Dies hat zu regulatorischer Arbitrage geführt, bei der Finanzaktivitäten in weniger streng regulierte Jurisdiktionen verlagert werden. Besonders deutlich wurde dies beim Rückzug europäischer Banken aus bestimmten US-Märkten aufgrund der unterschiedlichen Umsetzung von Basel III-Standards.
Die Kosten der Regulierung sind ebenfalls beträchtlich. Banken müssen nun erhebliche Ressourcen für Compliance aufwenden, was ihre Profitabilität belastet. Dies hat zu Konsolidierungen im Bankensektor geführt, da kleinere Institute oft nicht die notwendigen Skaleneffekte erreichen, um die Compliance-Kosten zu tragen. Gleichzeitig hat die striktere Regulierung traditioneller Banken das Wachstum des Schattenbankensektors befördert, wo Kreditvermittlung außerhalb des regulierten Bankensystems stattfindet.
Die Effektivität dieser Regulierungen ist schwer zu beurteilen, da wir nicht wissen, wie das Finanzsystem ohne sie auf Schocks reagieren würde. Was wir jedoch sagen können, ist, dass Banken heute deutlich besser kapitalisiert sind als vor der Krise. Die Kernkapitalquoten der größten globalen Banken haben sich mehr als verdoppelt, und ihre Liquiditätspositionen sind wesentlich stärker. Die Transparenz hat sich ebenfalls erheblich verbessert, und Regulierungsbehörden haben heute ein viel besseres Verständnis der Verflechtungen im Finanzsystem.
In den letzten Jahren haben wir jedoch auch eine gewisse Regulierungsmüdigkeit beobachtet. In den USA wurden unter der Trump-Administration Teile des Dodd-Frank Acts aufgeweicht, insbesondere für kleinere und mittelgroße Banken. Auch in Europa gibt es Bestrebungen, die Kapitalmarktunion voranzutreiben, was eine gewisse Deregulierung implizieren könnte. Die COVID-19-Pandemie hat zudem gezeigt, dass in Krisenzeiten regulatorische Flexibilität notwendig sein kann, um die Kreditvergabe an die Realwirtschaft zu unterstützen.
Die sieben globalen Finanzmarktregulierungen, die ich beschrieben habe, haben das Finanzsystem zweifellos robuster gemacht. Die erhöhten Kapitalanforderungen von Basel III, die systemische Risikoüberwachung des Dodd-Frank Acts, die Transparenzvorschriften von MiFID II, die Einschränkungen des Eigenhandels durch die Volcker-Regel, die institutionellen Reformen der Europäischen Bankenunion, die Strukturierung des OTC-Derivatemarktes und die reformierten Vergütungssysteme bilden zusammen ein Sicherheitsnetz, das das globale Finanzsystem widerstandsfähiger gegen zukünftige Schocks machen soll.
Als jemand, der die Umsetzung dieser Regulierungen aus nächster Nähe beobachtet hat, kann ich bestätigen, dass sie das Verhalten von Finanzinstituten grundlegend verändert haben. Risikomanagement steht heute im Mittelpunkt strategischer Entscheidungen, nicht am Rande. Die Kultur hat sich gewandelt, weg von exzessiver Risikonahme hin zu nachhaltigen Geschäftsmodellen.
Doch während wir ein Jahrzehnt nach der Krise auf ein stabileres Finanzsystem blicken können, entstehen neue Herausforderungen. Die Digitalisierung des Finanzwesens, Krypto-Assets und Big-Tech-Unternehmen, die in Finanzmärkte vordringen, stellen Regulierungsbehörden vor neue Fragen. Der Klimawandel bringt physische und transitorische Risiken mit sich, die im bestehenden regulatorischen Rahmen noch nicht vollständig erfasst sind.
Die Lehre aus der Krise von 2008 und den darauffolgenden Regulierungen ist klar: Finanzmärkte benötigen robuste Regeln, um ihre dienende Funktion für die Realwirtschaft zu erfüllen. Gleichzeitig müssen diese Regeln anpassungsfähig sein, um mit einem sich ständig weiterentwickelnden Finanzsystem Schritt zu halten. Die Balance zwischen Finanzstabilität und Innovation, zwischen globaler Harmonisierung und lokalen Besonderheiten, zwischen präventiver Regulierung und Reaktionsfähigkeit in Krisenzeiten bleibt eine der größten Herausforderungen für Regulierungsbehörden weltweit.