5 Strategien zur Diversifikation bei geopolitischen Spannungen
Die Welt fühlt sich an wie ein Pulverfass, auf dem wir unsere Lieferketten aufgebaut haben. Ich erinnere mich an einen Kunden, einen mittelständischen Maschinenbauer, dessen Hauptlieferant für Kugellager über Nacht in einer Konfliktzone feststeckte. Die Produktion stand still. Damals war Diversifikation nur ein theoretisches Konzept auf einer Folie. Heute ist es Überlebensstrategie. Hier sind fünf Wege, die ich aus der Praxis für besonders wirkungsvoll halte – jenseits der üblichen Ratschläge.
Nearshoring ist mehr als nur die Verlagerung nach Osteuropa oder Mexiko. Es geht um die Nutzung von “Schattenkapazitäten”. Viele übersehen das immense Potenzial kleinerer, hochspezialisierter Werkstätten und Familienbetriebe in näher gelegenen Regionen. Ein Automobilzulieferer, mit dem ich arbeite, hat nicht einfach eine große Fabrik in Osteuropa aufgebaut. Stattdessen identifizierte er ein Netzwerk von fünf präzisionsmechanischen Betrieben in Tschechien und Polen. Diese konnten kurzfristig Kapazitäten für kritische Drehteile bereitstellen, als die Hauptlieferkette aus Asien abriss. Der Clou: Diese Betriebe waren für große Konzerne oft unsichtbar, boten aber Flexibilität und kurze Wege. Die Investition lag nicht in riesigen Fabriken, sondern in der Integration dieser Partner in das eigene Planungssystem und in gemeinsame Qualitätsstandards. Die Lieferunterbrechungen für dieses Teil sanken um 70%.
Multi-Sourcing von Schlüsselkomponenten klingt einfach. Doch die Kunst liegt nicht nur darin, mehrere Anbieter zu haben, sondern bewusst Anbieter aus unterschiedlichen geopolitischen Blöcken oder mit unterschiedlichen Risikoprofilen einzubinden. Ein Elektronikhersteller zeigte mir einen cleveren Ansatz. Für ein bestimmtes Halbleitermodul setzen sie nicht nur auf einen Anbieter in Taiwan und einen in Südkorea (beide relativ ähnliches Risiko). Sie bezogen bewusst auch eine kleinere Menge von einem Anbieter in Vietnam und testeten sogar einen in Indien – Regionen mit deutlich anderem politischen Umfeld. Das erhöhte zwar kurzfristig die Logistikkosten leicht, aber als Spannungen in der Taiwanstraße eskalierten, konnte der indische Lieferant innerhalb von Wochen hochfahren. Der entscheidende Punkt war die frühzeitige Qualifizierung aller Quellen, bevor die Krise da war. Die reine Anzahl der Lieferanten bringt wenig, wenn nicht alle sofort einsatzbereit sind.
Digitale Handelsplattformen werden oft nur als Einkaufskanäle gesehen. Ihr echter Wert in Krisenzeiten liegt in der Transparenz und der dynamischen Vernetzung. Ich denke an einen Konsumgüterhersteller, der eine branchenspezifische Plattform nutzte. Als ein wichtiger Hafen in Asien blockiert wurde, konnte er nicht nur sofort alternative Transportrouten finden. Die Plattform zeigte ihm in Echtzeit, welche anderen Unternehmen ähnliche Waren benötigten und welche Lagerbestände regional verfügbar waren. Gemeinsam organisierten sie einen Sammeltransport über einen alternativen Hafen und teilten sich sogar Containerplatz. Das sparte enorme Kosten und Zeit. Diese Plattformen funktionieren wie digitale Schwarze Bretter in der Krise – sie ermöglichen spontane Kooperationen und machen versteckte Kapazitäten sichtbar, die in isolierten ERP-Systemen verborgen bleiben. Die Reaktionszeit auf Störungen reduzierte sich hier um 50%.
Branchenspezifische Ansätze sind entscheidend. Was für die Automobilindustrie funktioniert, kann für die Pharmabranche tödlich sein. Ein eindrückliches Beispiel kam von einem Pharmazulieferer. Während andere Industrien auf “Just-in-Time” optimierten, setzten sie bewusst auf strategisch verteilte Sicherheitsbestände für Wirkstoffe mit extrem langen Lieferzeiten oder aus nur einer Quelle. Aber sie gingen weiter. Statt die Bestände einfach zu verdoppeln, diversifizierten sie die Lagerstandorte. Kritische Wirkstoffe werden nicht nur in Europa, sondern auch in Singapur und (unter strengen regulatorischen Auflagen) in Costa Rica gebunkert. Das hört sich teuer an. Durch genaue Berechnungen der Ausfallrisiken und potenziellen Umsatzverluste bei Lieferausfällen rechtfertigte sich die Investition jedoch klar. Für sie war die Kosten-Nutzen-Abwägung nicht rein logistisch, sondern lebenswichtig im wörtlichen Sinne. Die Zahl der Produktionsstopps aufgrund fehlender Wirkstoffe ging gegen Null.
Skalierbare Maßnahmen bedeuten: Nicht jedes Unternehmen kann sich globale Produktionscluster leisten. Der Einstieg muss machbar sein. Für KMUs ist “Dual-Sourcing” oft der realistischste erste Schritt. Aber auch hier gibt es einen pragmatischen Kniff: Beginne nicht mit dem teuersten oder komplexesten Teil. Suche dir eine Komponente mit mittlerem Wert und mittlerem Beschaffungsrisiko, die relativ einfach zu qualifizieren ist. Ein Werkzeugbauer zeigte mir, wie er für standardisierte Hydraulikkomponenten einen zweiten Lieferanten in Nordafrika etablierte. Die Investition war überschaubar, der Prozess diente als Blaupause für die Diversifikation kritischerer Teile später. Für größere Konzerne sind regionale Produktionscluster mächtig. Ein Chemiekonzern baute nicht nur eine zweite Fabrik in einer anderen Region. Er schuf ein vollständiges lokales Ökosystem mit Schlüssellieferanten und Logistikpartnern im Umkreis von 200 Kilometern. Dieser Cluster konnte im Krisenfall autonom operieren. Die Umsetzbarkeit war hoch, weil schrittweise vorgegangen wurde – zuerst die Endproduktion, dann schrittweise die Vorstufen. Die Zeit bis zur vollen Autarkie des Clusters lag bei 18 Monaten.
Die Kosten sind immer das erste Gegenargument. Doch die Rechnung ist komplexer geworden. Es geht nicht mehr nur um den Einkaufspreis auf der Rechnung. Füge die Risikokosten hinzu: Den potenziellen Umsatzausfall bei Lieferengpässen, die Kosten für Eiltransporte, den Imageschaden, den Verlust von Marktanteilen an resilientere Wettbewerber. Plötzlich sieht eine moderate Mehrinvestition in Diversifikation anders aus. Ein Zulieferer der Luftfahrtindustrie rechnete mir vor, dass die Mehrkosten für sein Multi-Sourcing-Netzwerk bei etwa 8% lagen. Ein einziger größerer Lieferausfall hätte jedoch mindestens das Zehnfache gekostet. Die Entscheidung war betriebswirtschaftlich klar. Die Umsetzbarkeit hängt stark von der Vorbereitung ab. Ein detailliertes Lieferketten-Mapping, das alle Tier-2- und Tier-3-Lieferanten und deren Standortrisiken identifiziert, ist die unverzichtbare Grundlage. Ohne diese Karte agierst du blind. Beginne heute, nicht erst wenn die nächste Krise in den Nachrichten ist. Diversifikation ist kein Projekt mit Enddatum, sondern ein kontinuierlicher Prozess – der neue stabile Normalzustand in einer instabilen Welt. Es ist das Management des Ungewissen mit klugen, praktischen Schritten. Deine Resilienz wird dein Wettbewerbsvorteil sein. Denke nicht in Lieferketten. Denke in widerstandsfähigen Netzen. Das ist der Perspektivwechsel, der zählt.